Mit
dem Scheiß leben müssen
Sexualisierte
Gewalt erlebt zu haben, bedeutet nicht nur mit dem Verbrechen und den
Folgen leben zu müssen. Es bedeutet sehr häufig auch, damit leben
zu müssen, dass die Täter ungestraft davon kommen. Wer an Gott
glaubt, kann immerhin noch auf höhere Gerechtigkeit hoffen. Viele
finden erst Jahre später den Mut über die Tat(en) zu sprechen oder
sie haben das Geschehene so weit verdrängt, dass sie sich erst Jahre
oder Jahrzehnte später daran erinnern. Bei sexualisierter Gewalt ist
die Beweislage ohnehin schwierig, weil in der Regel nur der Täter
und das Opfer anwesend sind. Ist die Tat schon Jahre her, ist es noch
schwieriger, da es keine Spuren mehr gibt. Juristisch/rechtsstaatlich
ist das Problem aber ohnehin nicht zu lösen. Sexualisierte Gewalt
ist ein gesellschaftliches Problem und kann somit nur
gesamtgesellschaftlich gelöst werden. Dennoch bin ich dafür, die
Verjährungsfristen für Sexualdelikte aufzuheben, um ein Zeichen zu
setzen und Betroffenen die Möglichkeit zu geben den Täter
anzuzeigen und Schmerzensgeld einzuklagen.
Der
Umgang der Gesellschaft mit dem Thema sexualisierter Gewalt ist
geprägt von Widersprüchlichkeit. Sexualisierte Gewalt im
allgemeinen und sexualisierte Gewalt an Kindern im Besonderen, werden
von der Gesellschaft als die schlimmsten Verbrechen überhaupt
angesehen. Für kein anderes Verbrechen wird regelmäßig die
Todesstrafe gefordert, nicht einmal für Mord. Bis zum Erbrechen wird
wiederholt, „Missbrauch bedeutet
immer lebenslänglich für
die Opfer“ (wir selbst nennen uns
Betroffene oder Überlebende). Auf der anderen Seite wird in den
meisten Fällen nicht einmal das mögliche Strafmaß ausgeschöpft,
selbst wenn die Tat nicht strittig ist. Ersttäter kommen meist mit
Bewährungsstrafen davon, es sei denn, es handelt sich um besonders
„schwere Fälle“. Auch der Umgang mit den Überlebenden könnte
widersprüchlicher nicht sein. Es gibt nicht genügend
Therapeut_innen, die auf sexualisierte Gewalt spezialisiert sind.
Ebenso sind viele hilfreiche Therapiemethoden von den Kassen nicht
anerkannt. Therapien werden auch nicht unbegrenzt bewilligt, das
heißt, es wird erwartet, dass Betroffene innerhalb eines bestimmten
Stundenkontingents genesen. Viele Betroffene sind zudem
arbeitsunfähig oder verlieren ihre Arbeitsplätze, weil sie zu oft
und zu lange krankgeschrieben sind, weil sie sich zum Beispiel für
mehrere Monate im Jahr in stationären Therapieeinrichtungen
befinden.
Die
Empörung über das Verbrechen hält meist nur so lange an, wie die
Betroffenen abstrakt und weit entfernt sind. Dringt das Grauen in den
persönlichen Nahbereich ein, kommt es häufig zu einer Veränderung.
Oftmals setzt ein Beißreflex gegen die Betroffenen ein. Ihr Leid und
ihr Elend sind nur so lange bemitleidens- und empörenswert, so lange
sie nicht sichtbar sind. Sobald die Betroffenen Namen und Gesichter
haben, ist es nicht mehr so schlimm. Die Betroffenen sollen sich
nicht „anstellen“, sie sollen sich zusammenreißen. Sie sollen
„was machen“ (Therapie). Dieser Satz kommt in der Regel, ohne
dass sich zuvor erkundigt wurde, ob die Betroffenen aktuell in
Therapie sind. Es wird einfach unterstellt, dass sie nichts „machen“,
denn sonst hätten sie ja keine Probleme. Sie sind also selbst
schuld. Die Verantwortung wird auf das Opfer übertragen. (Dies sind
Beispiele aus dem realen Leben und nicht etwa aus dem Internet, wo
die Menschen bekanntlich jede Hemmung verlieren.)
Die
Genesung von sexualisierter Gewalt ist nichts, wo man mal eben „was
macht“. Der Genesungsprozess dauert meist viele Jahre, Jahrzehnte
oder auch ein Leben lang.
Nichts
sehen, nichts hören, nichts sagen
Diese
Verbrechen
werden,
ebenso
wie
der
Massenmord
an
Tieren,
jeden
Tag
begangen.
Überall
in
Deutschland,
mitten
unter
uns.
Doch
die
Leute
wollen
es
nicht
sehen.
Sie
zeigen
lieber
mit
dem
Finger
auf
andere
Länder
und
echauffieren
sich
über
die
dortige
„rückständige
Kultur“.
Natascha
Kampusch,
die
1998 als zehnjährige von Wolfgang Priklopil entführt
und mehr als acht Jahre lang gefangen gehalten wurde[13] bringt
es
auf
den
Punkt:
„Diese
Gesellschaft braucht Täter
wie Wolfgang Priklopil, um
dem Bösen, das in
ihr wohnt, ein Gesicht
zu geben und es
von sich selbst
abzuspalten. Diese Gesellschaft
benötigt die Bilder von
Kellerverliesen, um nicht
auf die vielen Wohnungen
und Vorgärten sehen zu
müssen, in denen die
Gewalt ihr spießiges,
bürgerliches Antlitz zeigt.
Sie benutzt die Opfer
spektakulärer Fälle wie
mich, um sich der
Verantwortung für die
vielen namenlosen Opfer der
alltäglichen Verbrechen zu
entledigen, denen man nicht
hilft – selbst wenn sie
um Hilfe bitten.“[14]
Kinder,
denen sexualisierte Gewalt angetan wird, müssen meist mehrere
Erwachsene ansprechen, bis ihnen jemand glaubt[15].
So
wandte sich auch Andreas Huckele, ein ehemaliger Schüler der
Odenwaldschule, bereits 1998 mit zwei Briefen an den damaligen Leiter
der Odenwaldschule und im November 1999 berichtete die Frankfurter
Rundschau erstmals über die Vorfälle[16]. Aber erst 2011 wurde das
Thema medial aufgegriffen. Ein Jahrzehnt später!
Auch
die
Sicht
auf
die
Täter
verändert
sich,
sobald
sie
Gesichter
und
Namen
haben.
Josef
Fritzl,
der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Kellerverlies eingesperrt
hat[17]
ist
ein
schlechtes
Beispiel,
weil
er
jedes
Maß
gesprengt
hat.
Bleiben
die
Täter
aber
im
„üblichen“
Rahmen,
sieht
es
anders
aus.
Nach
der
Verhaftung
Roman
Polanskis
in
der
Schweiz[18]
gab
es
viele
Prominente,
die
sich
für
seine
Freilassung
einsetzten.
Immer
wieder
fielen
Sätze
wie:
“Man
darf
bei
all
dem
nicht
vergessen,
dass
er
ein
großer
Künstler
ist“
oder
„es
ist
lange
her“.
Als
würde
es
für
die
Opfer
besser
werden,
wenn
der
Täter
ein
großer
Künstler
ist
und
nicht
der
Klempner
von
nebenan.
Auch
die
Distanz
zu
Gerold
Becker,
dem
ehemaligen
Direktor
der
Odenwaldschule
und
Haupttäter
(ihm
werden 86 männliche Opfer zwischen 12 und 15 Jahren
zugerechnet) [19],
ist
vielen
schwergefallen.
Becker
gilt
bei
manchen
noch
immer
als
„Papst
der
Reformpädagogik“.
Vergewaltigung
- Mythos und Wirklichkeit
Ein
weiteres Problem: Ist von Vergewaltigung die Rede, so ist meist das
Klischee von Vergewaltigung gemeint. Das heißt eine junge, dem
gängigen Ideal von schön entsprechende Frau von „tadellosem Ruf“
(also ohne „ausschweifendes Sexualleben“) wird ohne eigene
„Schuld“ (sie war nicht spät abends allein unterwegs, sie trug
keinen zu knappen Rock, hat nichts getan, um den Täter zu
„provozieren“), Opfer eines fremden Täters. In diesem Fall –
und nur dann – ist aus Sicht der Allgemeinheit, tatsächlich allein
der Täter verantwortlich. In diesem Fall erfährt das Opfer breite
Solidarität und Unterstützung. Dieses Vergewaltigungsklischee kommt
in der Realität allerdings kaum vor. Vergewaltigungen werden
überwiegend im sozialen Nahbereich verübt oder sind
Beziehungstaten. Das macht gerade diesen Vergleich zusätzlich
problematisch, da viele Betroffene unter genau dieser Diskrepanz
leiden.
Mein
erster Versuch das
Problem zu
thematisieren
Als
ich im Herbst 2012 in einem Forum erneut auf einen
Vergewaltigungsvergleich (mit Kindern) gestoßen bin, ist mir der
Kragen geplatzt und ich habe geschrieben, was ich dabei empfinde. Was
dann passierte, war eine 1:1 Reproduktion dessen, was sich innerhalb
der „Normalgesellschaft“ abspielt.
Die
Antworten auf meinen Beitrag habe ich in wohlwissender Voraussicht
nicht gelesen. Eine Bekannte hat nach den ersten Sätzen der ersten
Antwort aufgehört zu lesen, weil ihr schlecht wurde. Einige Zeit
später beschwerte sich dann eine Person sowohl über den abfälligen
Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt, als auch darüber, dass
ich meinen Beitrag ohne Inhaltswarnung geschrieben hatte. Was darauf
folgte, habe ich nur bruchstückhaft mitbekommen, weil es für mich
nicht auszuhalten war und ich mich hilfesuchend an eine Freundin
wandte, der ich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von meiner
Vergangenheit erzählte. In einer Antwort auf den Beitrag wurde sich
darüber lustig gemacht, dass die Person eine Inhaltswarnung erwartet
hat: Es wurde mit “Ach Gottchen“ kommentiert und erklärt, dass
man sich nicht mit meinem Standpunkt auseinandersetze, weil ich keine
Tierrechtlerin sei (weil ich befürworte, sich auch für
Verbesserungen für Tiere einzusetzen und nicht nur das Endziel im
Auge habe). Ein anderer Kommentar unterstellte der Person, die mir
beigesprungen war sogar, sie sei von Antivegan.
Das
ist nichts anderes als die „Konstruktion der anderen“. Wer nicht
dazu gehört, dem darf alles angetan werden. Der paternalistische, im
Mensch-Tier-Verhältnis kritisierte Ton, wird hier auf den Menschen
angewendet. Das „Opfer“ hat willig zu sein. Zwang wird ausgeübt.
Das menschliche Opfer kann im Vergleich zum nichtmenschlichen zwar
für sich sprechen, aber man will nicht hinhören. Was Betroffene
denken und fühlen interessiert nicht, wenn es nicht ins eigene
Weltbild passt. Auf diese Weise werden wir Betroffenen erneut
entindividualisiert und verdinglicht. Wir werden instrumentalisiert.
Wir werden missbraucht. Denn das Leid und das Elend hinter dem
Verbrechen, dessen man sich als Verstärker bedient, interessiert
nicht. Dennoch glauben einige offenbar, andere mit genau jenem Leid
überzeugen zu können. Jenem Leid misshandelter Kinder, dass sie
selbst negieren. Das ist verlogene Polemik.
Hier geht es weiter Klick